Kooperation und Vernetzung von Frühe Hilfen
Im Rahmen des Grundlagenprojekts wurde auf Basis einer Literatursuche ergänzt um Gruppendiskussion und Interviews eine Analyse zur Evidenz in Hinblick auf Kooperation und Vernetzung durchgeführt. Die zentralen Ergebnisse sind in Folge kurz dargestellt. Die Literaturanalyse Evidenz zur Vernetzung von Frühen Hilfen und zur Erreichbarkeit der Zielgruppen gibt einen weiteren Überblick.
Zentrale Kriterien für das Gelingen von Kooperation sind eine grundsätzliche Verständigung über die Zusammenarbeit, eine klare Regelung der Aufgaben in der fallbezogenen Arbeit und die Haltung der beteiligten Akteurinnen und Akteure. Das Gelingen von Kooperation darf nicht dem Engagement von Einzelpersonen überlassen werden, sondern muss nachhaltig verankert werden.
Für einen Aufbau von stabilen Kooperations- und Netzwerkstrukturen bedarf es eines Commitments zu Frühe Hilfen auf politischer und institutioneller Ebene, einer strategischen und inhaltlichen Ausrichtung sowie Akteur- und Angebotsanalysen einschließlich Bedarfserhebungen als Grundlage für einen Netzwerkentwicklungsprozess. Dieser Prozess sieht zweierlei vor - verbindliches Engagement und Kooperationsbereitschaft von den Akteurinnen und Akteuren vor Ort (Bottom-up-Ansatz) sowie verbindliche Strukturen und deren Absicherung durch die politische Steuerung (Top-down-Ansatz).
Es ist wichtig, verbindliche Kooperationsformen zu schaffen sowie Bewusstseinsbildung bei relevanten Berufsgruppen zu betreiben und sie zu schulen. Auf struktureller Ebene ist ein Frühe-Hilfen-Netzwerk auf Bundes- und/oder Landesebene zentral zu steuern und mittels Einrichtung von lokalen Koordinationsstellen und Netzwerkkoordinatorinnen und -koordinatoren auf kleinräumiger Ebene zu organisieren. Dabei soll sichergestellt werden, dass auf bestehenden Netzwerk- und Kooperationsstrukturen aufgebaut wird.
Kooperationsmodelle von Frühe Hilfen orientieren sich immer an den Gegebenheiten vor Ort. Um die Kooperation zu fördern, können Instrumente und Verfahren hilfreich sein: Auftaktveranstaltungen, runde Tische und Arbeitsgruppen können eine interdisziplinäre Kooperation auf übergeordneter Ebene (fallunabhängig) unterstützen. Auf fallübergreifender Ebene kann die Kooperation durch anonymisierte interdisziplinäre Fallbesprechung und interdisziplinäre Qualitätszirkel unterstützt werden. Bei einem konkreten Einzelfall können (Familien-)Konferenzen unterstützen.
Vernetzung ist auch eine wichtige Grundlage, damit ein frühzeitiges Erreichen der Zielgruppen von Frühe Hilfen gelingt. Ein Frühe-Hilfen-System versucht Unterstützungsbedarf – bezogen auf Lebensalter des Kindes und Entstehen des Bedarfs - möglichst frühzeitig und systematisch zu erkennen. Zentral sind Zugangswege zu Hilfsangeboten über Gesundheitssystem, Bildungs- und Frühförderungssystem sowie universelle (aufsuchende) Angebote, um Familien zu erreichen. Aufsuchende und niederschwellige Angebote im sozialen Nahraum und die Arbeit mit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sind vielversprechende Ansätze, um Familien in belastenden Lebenslagen zu erreichen.
Es ist davon auszugehen, dass der Erfolg von Frühe Hilfen in hohem Maße davon abhängt, wie gut die jeweiligen Berufsgruppen und Institutionen vor Ort miteinander vernetzt sind und in welchem Ausmaß interdisziplinäre Kooperation gelingt. Reibungsverluste und Kooperationshemmnisse in der Praxis sind zu überwinden oder wenigstens zu kontrollieren durch Einführung und Optimierung von qualitätsgesicherten Verfahren. Wichtig ist, dass Kooperationsvereinbarungen von den Akteurinnen und Akteuren gemeinsam erarbeitet werden, um sie verbindlich zu machen.
Zentrale Rückschlüsse aus den Erfahrungen in Deutschland
Vernetzung und funktionierende, (verbindliche) Kooperation zwischen Fachkräften aus unterschiedlichen Disziplinen sind aus Sicht der Fachpraxis wesentlich für einen präventiven Ansatz im Bereich „Frühe Hilfen“ und damit eine definierte Qualitätsanforderung für „Frühe Hilfen“ (Pott 2010, 989). Durch abgestimmtes, aufeinander bezogenes Handeln kann Familien ein schneller Zugang zu passgenauer Unterstützung und Hilfe geboten werden.
Im Zuge der wissenschaftlichen Begleitung der Modellprojekte in Deutschland haben sich vier zentrale Empfehlungen für Netzwerkarbeit herauskristallisiert (Renner & Heineshoff 2010):
» Netzwerke bedürfen nicht nur finanzieller Ressourcen für Aufbau und Pflege,
sondern auch Zeit und Geduld. Ziel ist, das Schaffen von Grundlagen für eine
dauerhafte, kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen relevanten Akteuren.
» Netzwerke benötigen ein klar formuliertes Konzept mit genau definierten Zielen.
Allen Beteiligten sollten die Struktur des Netzwerkes und die Ziele der
Zusammenarbeit bekannt sein.
» Ein Netzwerk muss leben. Deshalb sind regelmäßige - insbesondere auch
fallbezogene – Kontakte zwischen den einzelnen Partnerinnen und Partnern essentiell für das
Funktionieren und den Fortbestand eines Netzwerkes.
» Lokale Koordinatorinnen und Koordinatoren, die Leitungs- und
Vermittlungsfunktion übernehmen können, erleichtern die Zusammenarbeit von
Akteurinnen und Akteuren unterschiedlicher Disziplinen oder Arbeitszusammenhänge. Um ihre
Aufgabe optimal erfüllen zu können, sind Fortbildungsangebote für Koordinatorinnen
und Koordinatoren dringend notwendig.
Die Faktoren für eine gelingende Kooperation und Vernetzung aus Sicht von Expertinnen und Experten aus Kinder-, Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen (Ziegenhain et al. 2010) können den drei Kategorien „Haltung gegenüber Kooperationspartner/innen“, „fallübergreifende Aufgaben“ und „fallbezogene Aufgaben“ zugeordnet werden (vgl. nachfolgende Abbildung). Es wird darauf hingewiesen, dass das Gelingen von Kooperationen zwar immer personenabhängig ist, dass es aber auch einer klar definierten, strukturellen Verankerung für die Kooperation bedarf, um Kooperationen nachhaltig zu gestalten und diese nicht dem Willen der jeweiligen Einzelperson zu überlassen.
Abbildung: Bedingungen gelingender Kooperation (Quelle: Ziegenhain et al. 2010)
Bewährte Vorgehensweisen und Instrumente für Kooperation und Vernetzung (vgl. Ziegenhain et al. 2010):
» Auftaktveranstaltung unter horizontaler Einbindung verschiedener Berufsgruppen
und Institutionen sowie vertikaler Verankerung (Mittragen durch Leitungs- und
Mitarbeiterebene); Inhalte: Vorstellung des Projekts, Fachvorträge,
Podiumsdiskussion; Empfehlung: Gestaltung als Fortbildungseinheiten (mit
Bescheinigung von Punkten)
» Runde Tische als Konferenzen, in denen alle Berufsgruppen und Institutionen des
Netzwerks zusammenkommen; Inhalte: fachliche und inhaltliche Information,
Kennenlernen, Diskussion von Inhalten und Vorgehensweisen, Fixierung von
Absprachen hinsichtlich Kooperation; braucht: externe Moderation zur
kommunikativen Gestaltung der runden Tische (Integration der Teilnehmer/innen in den Austausch
und die Diskussion, Aufgreifen konstruktiver Ideen, Einbezug kritischer Stimmen etc.);
Empfehlung: Gestaltung als Fortbildungseinheiten (mit Bescheinigung von Punkten)
» Arbeitsgruppen zur Steuerung und zur Bearbeitung von Themen; Aufgabe
hinsichtlich Steuerung: Kontinuität des gesamten Prozesses gewährleisten, Initiieren
von runden Tischen, Festlegen der Themen und Organisation der Durchführung;
Aufgaben hinsichtlich Themenbearbeitung: Arbeitsgruppen können aus runden Tischen
resultieren und sich vertiefend mit ungelösten/relevanten Themen befassen, die
Ergebnisse fließen dann wieder in runde Tische ein.
» Interdisziplinäre Fort- und Weiterbildung von Fachkräften zu spezifischen
Themen (z. B. entwicklungspsychologische Beratung) zur Unterstützung der
Vernetzung auf personeller Ebene; Inhalte/Methode: Vermittlung der
Weiterbildungsinhalte, intensive gemeinsame Arbeit in Plenum, Klein- und
Supervisionsgruppen; Ziel/Nutzen: Entwicklung einer gemeinsamen Sprache, einer
gemeinsamen Sicht und einer gemeinsamen Haltung (nach Einschätzung mancher Teilnehmer/innen
wurden zwei Drittel der Vernetzungsarbeit im Rahmen gemeinsamer Weiterbildung
geleistet).